Sonntag, 27. März 2011

Zweiter Auszug (Novelle)

Erzählen muss ich, könnt’ ich schweigen? Herz und Zunge laufen über. Müsst’ ich schweigen, wär’s mein Tod. Und wer sollte mir schon den Mund verbieten? Bin ich Rechenschaft schuldig? Und wenn ja, wem? Und warum überhaupt? – Da sei von Anfang an ein Strich gezogen zwischen Schreiber und Leser. Hätt’ ich Rücksichten zu nehmen, ließe ich die Notizen wohl besser in meiner Feder stecken. So aber sollen meine Gedanken aus meinem Hirn herausquellen, es wird ihnen darin zu enge, sie wollen auf Wanderschaft gehen. Und nur der soll sich zu ihnen gesellen, dem es vor einem steinigen Wege nicht graut.

    Meine Wanderschaft habe ich hinter mir, nun also steht die meiner Gedanken an. Wen es gelüstet, der widme sich folgendem Bericht und ziehe hernach daraus seine Schlüsse – für sich oder die Welt, was tut’s! Es bleibt sich gleich.

    Eine Wanderschaft muss sich nicht unbedingt durch einen großen Radius oder viele angelaufene Punkte auszeichnen. Durchaus kann es genügen, dass sie gewissermaßen von A nach B verläuft und dann wieder von B nach A. Auch der zeitliche Faktor kann belanglos sein, es kommt durchaus nicht auf eine lange Zeitspanne an. Letztendlich ist allein maßgeblich, was durch sie bewirkt wurde.

    Die Reisevorbereitungen waren also zu treffen, und das eiligst. Wollte ich meinen Besuch abstatten – und wie gerne wollte ich das! –, durfte ich nicht zögerlich sein, nicht alles an Unwägbarkeiten bedenken, was denkbar sein mochte, sondern ich musste mit Zuversicht an die Sache herangehen. Der Zeitrahmen war eng gesteckt, Gesslov nur von dann bis dann anzutreffen, ansonsten wieder für längere Zeit meinem Zugriff entzogen. Diese Chance durfte ich mir nicht entgehen lassen. Nie und nimmer hatte ich an eine solche geglaubt, in den vergangenen zehn Jahren mir jeglichen Gedanken daran untersagt, versucht, mich damit abzufinden, dass Wantlek mit seinem Abschied von mir zwar für mich verloren sei, sein Glück jedoch gefunden haben mochte – und war das nicht genug? Nun aber sollte ich Gelegenheit bekommen, an jene vergangenen Tage anknüpfen zu können. Ja! Ich durfte keinesfalls zögern.

    Die Führung des Geschäftes würde sich für die Zeit meiner Abwesenheit in den Händen eines Untergebenen befinden, eines integeren Mannes, der seit Jahren in meinen Diensten stand und auch das Zeug dazu hatte, eine solche Aufgabe zu bewältigen; Instruktionen wurden erteilt, diesbezüglich brauchte ich mir also keine Sorgen zu machen. Nicht ganz zu unterdrückende Bedenken hatte ich eher im Hinblick darauf, dass eine Reise, auch wenn ihr geografisches Ziel bekannt ist, durchaus böse Überraschungen mit sich bringen kann, die naturgemäß nicht zu beeinflussen sind. Doch durfte ich nicht überängstlich sein. Wie viel Mut musste erst Wantlek aufgebracht haben, als er seine Reise antrat, deren Ziel er gar nicht kannte! Von mir wurde wesentlich weniger verlangt. Und doch weiß ich noch genau, wie ich dachte: So tue ich es meinem Freunde Wilhelm gleich und gehe auf ungewisse Fahrt.

    Erleichtert, zumindest doch nicht erschwert, wurde mein Vorhaben durch den Umstand, dass ich keinen persönlichen Bindungen unterlag. Keine Frau konnte mich als Mann, kein Kind mich als Vater titulieren, meine Eltern tot, meine Schwester, gut situiert, mit ihrem eigenen Leben beschäftigt. Auf wen sollte ich also Rücksicht nehmen? Auch wenn ich nicht zurückkehren würde, dem Wahnsinn verfiele oder gar stürbe; wen würde es interessieren, wer wäre deswegen traurig? Wohl meine Schwester, ja, weil mit mir der Einzige verloren wäre, der außer ihr noch das Blut der Eltern in sich trug. Doch wäre der älter gewesen, hätte näher am Grabe gestanden, hätte ihr also keinen Vortritt beim letzten Gang gelassen. Natur alles Lebendigen. Mein Untergebener vielleicht, weil er seinen Herrn verlöre? Eher wahrscheinlich, dass er das Geschäft selbst weiterführe, Gott sei dem Alten gnädig, täglich ein Gebet für ihn, doch nun geht die Arbeit vor. – Wie schnell wird doch ein Mensch vergessen!

    Schluss damit. Den Überlegungen hatten Taten zu folgen. Die Kutschfahrt wollte arrangiert, das Allernötigste verpackt sein. Der Schwester einen kurzen Brief, ich melde mich bei Rückkehr wieder, Geschäftsreise. Vier Tage auf die Abfahrt warten; Zeit genug, um vor meinem geistigen Auge, gewissermaßen zur Einstimmung auf die Reise, Erinnerungen aus den letzten Wochen, Monaten, jawohl, den letzten zehn vergangenen Jahren ablaufen zu lassen, der Zeit, die ich mittlerweile ohne Wilhelm verlebt hatte – aber wie denn nur? So rasend schnell schien die Zeit verflogen zu sein. Denn zehn Jahre war es nun schon her, dass ich seinen Abschiedsbrief erhalten hatte. So traurig mich dieser auch damals stimmte, es überwog doch die Freude darüber, die Vermutung, die Hoffnung, dass mein Freund den für ihn bestimmten Weg gefunden habe, zusammen mit seiner Tine, denn jeder Weg ist kürzer und leichter, wenn ihn eine liebe Seele mitgeht. Und sieben Monate nach Erhalt dieses Briefes wurde mir das damals sogar bestätigt – durch ihn selbst! Vermittels eines neuerlichen Briefes, den ich völlig unerwartet von ihm erhielt. Ich rücke dessen Inhalt an dieser Stelle ein, er ist es wert, gelesen zu werden; auch handelt es sich in gewissem Sinne um eine Dokumentation, denn es folgte dann kein weiterer Brief mehr, kein einziger in all den Jahren, wer weiß, warum. Seitdem hüte ich das Schriftstück wie meinen Augapfel, trage es am und im Herzen mit mir herum, wohlbehütet in meiner Brieftasche, damit es mein Blut pulsieren hören kann.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen